Der Begriff „Präsentismus“ wird in den Arbeits- und Gesundheitswissenschaften verwendet, um das Verhalten von Arbeitnehmern zu beschreiben, die sich im Falle einer Erkrankung nicht krank melden, einen Arzt aufsuchen oder zu Hause bleiben, sondern arbeiten gehen. Im Gegensatz dazu steht der Absentismus, was bedeutet, dass Mitarbeiter unbegründet fehlen.
Ursprünglich wurde der Begriff des „Präsentismus“ als Gegenbegriff zum Absentismus geprägt. In seinem Bericht „How to Build Presenteeism“ hat der amerikanische Arbeitswissenschaftler Auren Uris ihn dazu 1955 erstmals verwendet. Allerdings verfolgte Uris seinerzeit das Ziel, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Anwesenheitszeiten von Arbeitnehmern durch bestimmte Maßnahmen gesteigert werden könnten.
Erst später wurde erkannt, dass Anwesenheit nicht per se mehr Produktivität für ein Unternehmen bedeutet. Mitarbeiter können durch gesundheitliche Beschwerden bei der Arbeit eingeschränkt sein. Präsentismus kann somit Kosten und unternehmerische Verluste verursachen.
Tatsächlich hat sich gezeigt, dass Mitarbeiter, die trotz Krankheit zur Arbeit kommen, sogar höhere Kosten verursachen als erkrankte Mitarbeiter, die der Arbeit fernbleiben. Krank am Arbeitsplatz bringen Arbeitnehmer nie die volle Leistung.
Sie sind fehleranfällig, weniger empathisch und gerade bei einer Beschäftigung im direkten Kundenkontakt ein schwer einschätzbarer Risikofaktor: Wer möchte schon, dass ein Kunde den Eindruck hat, er sei dem Mitarbeiter zur Last gefallen oder könnte sich vielleicht sogar mit einer Erkältung bei ihm anstecken? Mit der verringerten Leistung des erkrankten Einzelnen sinkt die Leistungsfähigkeit des gesamten Teams, das gegebenenfalls auch einem Ansteckungsrisiko ausgesetzt ist.
Die Krankenkasse Vitality errechnete, dass der Produktivitätsverlust durch Präsentismus der britischen Wirtschaft einen Schaden von mehr als 100 Mrd. US-Dollar zufügt. Die Zahlen aus Großbritannien zeigen, dass die produktive Zeit der Mitarbeiter aufgrund von Krankheit durchschnittlich um 35,6 Tage sank. 90% der verlorenen Zeit waren auf Präsentismus zurückzuführen (1).
Zugleich wächst das Risiko eines langfristigen Ausfalls stark bei Personen, die mehrmals im Jahr trotz Erkrankung zur Arbeit gehen. Eine dänische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit einer Langzeiterkrankung bei Personen, die öfter als sechsmal im Jahr krank zur Arbeit gehen um 74 % höher ist als bei anderen Arbeitnehmern.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat 2011 in einem „Review zum Stand der Forschung“ die Höhe der betriebswirtschaftlichen Kosten des Präsentismus anhand einer Metadatenanalyse untersucht.
Das Ergebnis: Gesundheitliche Beschwerden, die Mitarbeiter mit zur Arbeit bringen, sorgen für ein Vielfaches der Produktivitätseinbußen, die Kranke verursachen, die der Arbeit fernbleiben. (2)
Auf Grundlage einer Studie bei der Henkel KgaA errechneten Arbeitswissenschaftler beispielsweise, dass die Produktivitätseinbußen in deutschen Unternehmen aufgrund von Gesundheitsproblemen 12% der Gesamtproduktivität betragen. Dabei waren die Einbußen durch Absentismus nur halb so hoch wie die durch Präsentismus.
Im Jahr 2009 lagen die durchschnittlichen Unternehmenskosten pro Mitarbeiter durch Präsentismus bei 2.399 €. Die durchschnittlichen Unternehmenskosten pro Mitarbeiter durch Absentismus beliefen sich im Vergleich dazu auf 1.199€ (3).
Noch immer ist die Datenlage in Deutschland dürftig. Offensichtlich wurde das Problem noch nicht in seiner ganzen Tragweite erfasst. Auch gibt es bisher kein „einheitliches, akzeptiertes Vorgehen“, mit dem Zahlen zu Absentismus und Präsentismus in monetäre Werte umgerechnet werden könnten.
Die Arbeitspsychologie ist bereits einen Schritt weiter: Die Gründe, die Menschen haben, wenn sie trotz Krankheit zur Arbeit gehen, wurden mit Hilfe von Fragebögen und Umfragen vergleichsweise gut untersucht.
Oft ist es der Gedanke, dass Kollegen die Abwesenheiten auffangen müssen, der Menschen dazu antreibt, krank zur Arbeit zu gehen. Sie ignorieren die Warnzeichen des eigenen Körpers, um Mehrarbeit für andere zu vermeiden, weil sie meinen, den Kollegen und dem Team mehr als sich selbst verpflichtet zu sein.
Ist das Arbeitspensum immer nur gerade so und wenn überhaupt, nur dann zu bewältigen, wenn niemand ausfällt, folgt daraus leider auch, dass Mitarbeiter den Kollaps der Arbeitsabläufe stärker als die eigenen gesundheitlichen Folgen fürchten. Insbesondere in kleinen Unternehmen, in denen der Personalbestand ohnehin eng bemessen ist, sind Arbeitnehmer schneller überlastet und einem umso höheren Druck ausgesetzt.
Hat sich ein Mitarbeiter lange alleine mit einem Projekt beschäftigt, wird er fast zwangsläufig annehmen, dass niemand anders in der Lage ist, seine Arbeit fortzusetzen, wenn er ausfällt. Vielleicht ist das eine subjektive Fehleinschätzung. Unter Umständen steht dahinter aber auch ein Führungsproblem. Schließlich ist die Frage nach einer Vertretung offensichtlich nicht rechtzeitig geklärt worden.
Wer in einem befristeten Vertragsverhältnis steht oder in einer Anwartschaft auf die endgültige Beförderung hinarbeitet, steht unter zusätzlichem Druck und will nicht riskieren, durch Fehlen seine Position aufs Spiel zu setzen.
Jede Unternehmenskultur ist von vielen unausgesprochenen Regeln geprägt, die vorgeben, wie das soziale Miteinander strukturiert ist.
Wer erlebt, dass es normal ist, wenn Mitarbeiter, vermummt in einen Schal und bewaffnet mit einer Großpackung Taschentücher zur Arbeit kommen, überlegt selbst zweimal, ob er direkt zum Arzt oder doch noch zur Arbeit geht.
Das Thema Fehlzeiten ist in vielen Unternehmen ein stark negativ konnotierter Dauerbrenner. Mitunter werden sogar Prämienzahlungen oder Zusatzleistungen nur dann (voll) ausgezahlt, wenn die Zahl der krankheitsbedingten Fehltage einen Schwellenwert nicht überschreiten. Daraus können Mitarbeiter leicht ableiten, dass der Chef verlangt, dass sie auch krank zur Arbeit kommen.
Auch ein „nur“ grippekranker Mitarbeiter kann in einem Großraumbüro schnell eine Erkältungswelle verursachen und die Gesamtproduktivität des ganzen Teams nachhaltig verringern. Auch gesundheitliche Probleme, die keine äußerlichen Anzeichen haben müssen, können schwerwiegend sein und sollten nicht unterschätzt werden. Das gilt insbesondere, da die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund von psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren weiter deutlich zugenommen hat.
Ist das Risiko erst einmal erkannt, lässt sich einiges tun, um Präsentismus im eigenen Unternehmen zu vermeiden.
Eine Analyse der Überstundenzeiten in Abgleich zur Fehlzeitenstatistik kann helfen, das Phänomen „Arbeiten trotz Krankheit” besser zu verstehen. Machen Mitarbeiter viele Überstunden, muss das nicht ein Zeichen für deren besonderes Engagement sein. Vielleicht ist das Überstundenkonto ein Anzeichen dafür, dass die Abteilung des Mitarbeiters unterbesetzt und die Arbeitslast dort zu hoch ist.
HR-Tipp: Mit einer HR-Software haben Sie Überstunden und Fehlzeiten immer im Blick und können rechtzeitig handeln
Die Gestaltung der Arbeitsverträge ist eine wichtige Stellschraube: Wer deutlich macht, dass auch im Falle einer Erkrankung das Beschäftigungsverhältnis nicht in Gefahr ist, kann Präsentismus vermeiden.
Anstatt Mitarbeiter zu sanktionieren, die sich krankmelden, sollten Sie konsequent jeden Mitarbeiter zurück nach Hause schicken, der krank zur Arbeit kommt. Machen Sie deutlich, dass Sie personell beziehungsweise planerisch so gut aufgestellt sind, dass immer jemand in der Lage ist, zu übernehmen.
Der sensible Umgang mit dem eigenen Körper und ein geschärftes Bewusstsein für die Gesundheit sind die Basis fürn eine gesunde Work-Life-Balance. Veranstalten Sie einen Gesundheitstag, informieren Sie Ihre Mitarbeiter über die Einführung eines betrieblichen Eingliederungs- oder Gesundheitsmanagements und machen Sie dabei auch „Arbeiten trotz Krankheit“ zum Thema.
Gehen Sie verantwortlich mit der eigenen Gesundheit um. Vorgesetzte sind in einer Vorbildrolle. Statt den Druck auf Mitarbeiter durch zahlreiche Überstunden unbeabsichtigt zu erhöhen, sind Sie besonders gefragt, zu zeigen, dass der Bogen der eigenen gesundheitlichen Belastbarkeit nicht überspannt werden darf.
Präsentismus stellt eine unterschätzte, aber sehr ernst zu nehmende Bedrohung für Mitarbeiter und Unternehmen dar. Um langfristig die Gesundheit Ihrer Mitarbeiter zu fördern und Verluste zu vermeiden, sollte das Thema einen hohen Stellenwert in der Entwicklung und Kultur Ihres Unternehmens einnehmen.
Werden Sie als Geschäftsführer und Vorbild für die Belegschaft aktiv. Bieten Sie zusätzlich eine Lösung für die Arbeitszeiterfassung an. Dies kann dem Unternehmen, sowie den Mitarbeitern dabei helfen, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen.
Quellen:
(2) https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Gd60.pdf?__blob=publicationFile (S.105)
(3) ebd. S.85
(4) Billomat
(5) https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Gd60.pdf?__blob=publicationFile S.110