kiwiHR by Tellent hat bei Alexander Greth, Rechtsanwalt für Arbeitsrecht, nachgefragt. Zwar handelt es sich hierbei um einen Blick in die Glaskugel, jedoch können durchaus einige Annahmen getroffen werden, wenn man sich so lange mit dem Arbeitsrecht beschäftigt hat wie Alexander Greth.
Wer spricht hier?
Auf Seiten von kiwiHR übernimmt unser Marketingmanager Fabian die Rolle des Interviewers. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem HR-Bereich und kreiert für kiwiHR Content rund um diese spannenden Themen. Der Zeiterfassung steht er positiv gegenüber und sieht sowohl für Arbeitgeber wie auch für Arbeitnehmer Vorteile darin.
Sein Gesprächspartner ist Alexander Greth, Rechtsanwalt für Arbeitsrecht bei der Anwaltskanzlei Simmons & Simmons. Er ist dort seit über 20 Jahren tätig und ein Experte im Arbeitsrecht. Auch er hat sich natürlich mit dem Thema Zeiterfassung auseinandergesetzt und steht uns heute Rede und Antwort.
Hallo Herr Greth,
ich glaube, es hat erstmal alle etwas verwundert, als das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts zur Zeiterfassung gefällt wurde. Wie ist das Urteil des Bundesarbeitsgerichts auszulegen und gilt dieses ab sofort oder können wir auf das Gesetz warten, bis wir es umsetzen müssen?
Das Urteil gilt ab sofort. Allerdings liegt derzeit nur die Pressemitteilung vor, die eine ganze Reihe von Fragen offen lässt. Daher fällt es mir schwer, Mandanten jetzt schon konkret zur Umsetzung des Urteils zu beraten, und ich möchte hier zunächst die Entscheidungsgründe abwarten.
Dem Bundesarbeitsministerium geht es da nicht besser. Auch dort wurde der Handlungsbedarf erkannt, und es sollen zunächst die Entscheidungsgründe abgewartet werden, bevor mit dem Entwurf eines Gesetzes begonnen wird.
Da es zukünftig eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung in der ein oder anderen Form geben wird, sind Arbeitgeber allerdings sicher gut beraten, sich bereits jetzt damit auseinanderzusetzen.
Ab wann können wir Ihrer Meinung nach denn ungefähr mit einer Urteilsbegründung und einem Gesetz zur Zeiterfassung rechnen?
Da das Bundesarbeitsgericht weiß, dass alle auf die Entscheidungsgründe warten, gehe ich davon aus, dass das Bundesarbeitsgericht sich damit nicht allzu viel Zeit lassen wird und erwarte, dass die Urteilsbegründung in den nächsten Wochen vorliegen wird. Wie schnell dann der Gesetzgeber tätig wird, wage ich nicht zu prognostizieren. Ich könnte mir vorstellen, dass das Gesetzgebungsverfahren bis Mitte nächsten Jahres dauern wird und vielleicht noch vor der Sommerpause ein Gesetz verabschiedet wird.
Für den Gesetzgeber ist das eine schwierige Materie, da einerseits eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung im Sinne der Rechtsprechung des EuGH und des BAG umgesetzt werden muss. Andererseits aber der erklärte Wille ist, Vertrauensarbeitszeit weiterhin zu ermöglichen. Dem Gesetzgeber muss daher ein Stück weit die Quadratur des Kreises gelingen.
Wenn das neue Arbeitszeitgesetz da ist, aber Unternehmen dies trotzdem nicht umsetzen, wird es ja sicherlich Sanktionen geben. Wie könnten denn Saktionen aussehen und wie können diese durchgesetzt werden?
Lassen Sie uns zunächst mal einen Blick auf die derzeit bestehende Rechtslage werfen. Diese ist für Arbeitgeber noch ganz entspannt, weil das Bundesarbeitsgericht die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung aus § 3 Arbeitsschutzgesetz ableitet und ein Verstoß gegen § 3 Arbeitsschutzgesetz keine Ordnungswidrigkeit ist und dementsprechend auch nicht mit Bußgeldern sanktioniert wird. Damit hat sich das Risiko von Sanktionen für Arbeitgeber durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nicht erhöht.
Davon unberührt bleibt die derzeit bereits bestehende Verpflichtung nach dem Arbeitszeitgesetz. So sind Arbeitgeber bereits jetzt verpflichtet, die Arbeitszeit, die über acht Stunden hinaus geht und die Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen und Nachtarbeit zu erfassen. Zudem besteht bereits im Mindestlohnbereich die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit. Bei Verstößen gegen diese Verpflichtungen drohen bereits jetzt Bußgelder, und zwar bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz bis zu EUR 15.0000,00 und bei Verstößen im Mindestlohnbereich bis zu EUR 30.000,00.
Ich erwarte, dass der Gesetzgeber sich zumindest an diesen Bußgeldern orientieren wird und daher Verstöße gegen die Arbeitszeiterfassung auch Bußgelder bis zu Höhe EUR 15.000,00 nach sich ziehen werden.
Davon unabhängig kann in Einzelfällen ein Haftungsrisiko des Arbeitgebers bestehen, wenn er zulässt, dass Mitarbeiter gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, indem sie zu lange arbeiten oder keine Pausen machen und dann Schäden bei Dritten verursachen. Das betrifft weniger Mitarbeiter mit Büroarbeit, sondern eher Arbeitnehmer in der Produktion. Falls beispielsweise ein völlig übermüdeter Chemikant nach einer 14-Stunden-Schicht einen gravierenden Fehler macht und deshalb die Anlage explodiert oder Säure oder giftige Dämpfe austreten und Schäden anrichten, haftet der Arbeitgeber wegen seines Organisationsverschuldens.
Glauben Sie, dass dann beispielse Vertrauensarbeitezit, Home Office oder andere flexible Arbeitszeitmodelle noch möglich sind oder werden diese durch die Zeiterfassung eigeschränkt?
Homeoffice wird auf jeden Fall weiter möglich sein. Das betrifft die Flexibilisierung des Arbeitsortes, die erstmal nichts mit der Arbeitszeiterfassung zu tun hat. Arbeitszeiten können auch im Homeoffice erfasst werden. Gleiches gilt für mobiles, also ortsungebundenes Arbeiten.
Es ist auch der erklärte Wille des Gesetzgebers, Vertrauensarbeitszeit beizubehalten; dies wurde auch im Koalitionsvertrag so niedergelegt. Daran wird sich auch durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nichts ändern, da der Koalitionsvertrag zwar vor der Entscheidung, aber vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils zur Arbeitserfassung vereinbart wurde.
Allerdings dürfte in Folge des Urteils und einer gesetzlichen Neuregelung das Verständnis von Vertrauensarbeitszeit etwas enger gefasst werden. Vertrauensarbeit in der Weise, dass der Arbeitgeber nur auf das Arbeitsergebnis Wert legt und ihn nicht interessiert und er dementsprechend auch nicht erfasst, wann und wie lange der Mitarbeiter arbeitet, wird es zukünftig nicht mehr geben.
Dagegen wird Vertrauensarbeitszeit in dem Sinne, dass Mitarbeiter in der Gestaltung ihrer Arbeitszeit frei sind und diese innerhalb der Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes über den Tag verteilen können, auch zukünftig möglich sein. Das ist für mich dann allerdings eher ein Fall der sehr weitgehenden Arbeitszeitflexibilisierung und keine reine Vertrauensarbeitszeit mehr.
Abzuwarten bleibt allerdings, ob der Gesetzgeber den Arbeitgeber verpflichten wird, die von den Mitarbeitern erfasste Arbeitszeit zu kontrollieren. Falls nicht, könnte der Arbeitgeber durch den Verzicht auf seine Kontrolle wieder eine sehr weitgehende Vertrauensarbeitszeit ermöglichen.
Falls Arbeitsgeber darauf aus sein sollten, die Mitarbeiter sehr strickt zu kontrollieren, gibt es sicherlich in manchen Systemen auch die Möglichkeit, Standortdaten oder Ähnliches zu tracken. Damit könnte beispielsweise nachgewiesen werden, ob sich Mitarbeiter wirklich am Schreibtisch befinden oder nicht. Wäre es denn zulässig, solche Daten zu nutzen oder verstößt dies gegen das Datenschutzgesetz?
Ein solches Tracking ist grundsätzlich unzulässig und verstößt gegen das Datenschutzgesetz.
Eine Ausnahme kommt dann in Betracht, wenn Arbeitgeber konkrete Anhaltspunkte dafür haben, dass ein Arbeitnehmer bei der Arbeitszeit betrügt. Bei entsprechend dokumentierten Verdachtsmomenten können sie verfügbare Informationen zur Erhärtung dieses Verdachts auswerten. Es könnte dann beispielsweise geschaut werden, ob Mitarbeiter während der erfassten Arbeitszeit Aktivitäten am Bildschirmarbeitsplatz gezeigt haben. Dazu gibt es ja eine Reihe von Auswertungsmöglichkeiten.
Drehen wir den Spieß einmal um. Wenn Arbeitgeber dazu verpflicht sind ein Zeiterfassungssystem einzuführen, sind dann die Mitarbeiter auch verpflichtet dieses zu nutzen?
Das ist eine gute Frage, die ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten kann, weil sich die genauen Anforderungen an die Ausgestaltung des Zeiterfassungssystem weder aus der EuGH-Entscheidung noch aus der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts ergeben.
Aus der Pressemitteilung folgt lediglich, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, ein System zur Arbeitszeiterfassung zur Verfügung zu stellen. Ob das dann auch bedeutet, dass Mitarbeiter verpflichtet sind, dieses System zu nutzen, ist eine andere Frage. Gleiches gilt für die Frage, ob Arbeitgeber ihrerseits verpflichtet sind, die von den Mitarbeitern erfasste Arbeitszeit zu kontrollieren.
Da das Bundesarbeitsgericht die Verpflichtung aus dem Arbeitsschutzgesetz ableitet, hielte ich es für konsequent, wenn Arbeitnehmer verpflichtet wären, die Arbeitszeiterfassung zu nutzen und Arbeitgeber diese zum Zwecke des Arbeitsschutzes auch kontrollieren müssten. Das ist für mich eine der spannenden Fragen, deren Beantwortung sich hoffentlich aus den Entscheidungsgründen der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ergeben wird.
Ein sehr wichtiger Punkt für Mitarbeiter sind Überstunden, die dann im besten Fall auch wieder ausgeglichen werden können. In vielen Arbeitsverträgen gibt es jedoch Klauseln, dass eine gewisse Anzahl an Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind. Wäre es denkbar, dass Arbeitgeber aufgrund der besseren Dokumentation dieser Überstunden zu drastischeren Klauseln greifen, um auszuschließen, dass Mitarbeiter die Überstunden geltend machen können?
Die Vergütung von Überstunden richtet sich nach den vertraglichen Vereinbarungen, die Arbeitgeber vor Einführung einer Arbeitszeiterfassung auf den Prüfstand stellen sollten. Mit gut bezahlten Mitarbeitern, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung verdienen, kann vereinbart werden, dass Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind. Diese Mitarbeiter haben in der Regel nicht die Erwartung, dass Überstunden zusätzlich zum Gehalt gesondert vergütet werden.
Bei Mitarbeitern, die unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze verdienen, ist die pauschale Abgeltung von Überstunden dagegen nicht möglich. In der vertraglichen Überstundenregelung muss die Zahl der Überstunden im Monat genannt werden, die mit dem Gehalt abgegolten sein sollen. Maximal möglich sind, abhängig von den konkreten Umständen, bis zu 20 Stunden im Monat. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass durch eine pauschale Abgeltung einer bestimmten Anzahl von Überstunden der Mindestlohn nicht unterschritten wird.
Falls Arbeitsverträge bislang keine wirksame Regelung enthalten, müsste mit Mitarbeitern eine Ergänzung vereinbart werden, beispielsweise anlässlich einer Gehaltserhöhung. Schließlich schützen auch wirksam vereinbarte Ausschlussklauseln Arbeitgeber davor, dass Mitarbeiter die Bezahlung von Überstunden für lange zurückliegende Zeiträume fordern. Daher empfiehlt es sich in dem Zusammenhang auch die Formulierung der Ausschlussklausel zu überprüfen.
Welche Vor- ud Nachteile sehen Sie denn bei einem kommenden Zeiterfassungsgesetz für die Arbeitgeber und für die Arbeitnehmer?
Zum einen wird der administrative Aufwand zunehmen. Allerdings glaube ich nicht, dass damit große praktische Probleme einhergehen werden, da es gute und intelligente Lösungen für Unternehmen gibt, Zeiten elektronisch zu erfassen.
Ein Nachteil für Arbeitgeber könnte sein, dass Überstunden von Arbeitnehmern besser dokumentiert sind und Arbeitnehmer es damit einfacher haben, Vergütung für Überstunden, die nicht mit dem Grundgehalt abgegolten sind, zu verlangen.
Ein Vorteil für den Arbeitgeber könnte darin bestehen, dass er in Einzelfällen Arbeitszeitbetrug besser aufdecken und nachweisen kann.
Vor allem aber wird die Arbeitszeiterfassung dazu führen, dass die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes strenger beachtet werden. Das hat aus Arbeitnehmersicht Vor- und Nachteile. Nehmen Sie einmal das Beispiel des Mitarbeiters, der morgens, wenn die Kinder in der Schule sind, sechs Stunden arbeitet, dann den Tag über die Kinder betreut, abends ins Bett bringt und sich dann noch einmal für zwei Stunden an den Schreibtisch setzt und dadurch die elfstündige Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen nicht einhält. Dieses Beispiel wird gerne von der Arbeitgeberseite angeführt, um darzulegen, dass die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes zu streng sind und einer Flexibilisierung der Arbeitszeit dem Mitarbeiterinteresse entgegenstehen. Aus Gewerkschaftssicht wird dagegen eingewendet, dass dieses Beispiele unrealistisch sei und es darum gehe, Arbeitnehmer vor Selbstüberforderung zu schützen.
Bei einer genauen Arbeitszeiterfassung und der damit einhergehenden Dokumentation von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz könnte dies zukünftig so nicht mehr möglich sein. Letztlich bedeutet dies, dass eine Arbeitszeiterfassung dem Arbeitszeitgesetz zur besseren Durchsetzung verhelfen wird, was wiederum vor allem im Mitarbeiterinteresse ist.
Da Sie gerade nochmal die flexiblen Arbeitszeiten angesprochen haben, stellt sich mir die Frage nach einer Automatisierung. Es gibt Systeme in denen Arbeitszeiten automatisch erfasst werden können. Beispielsweise stellt man vorher ein, dass jeden Tag von 08:00 Uhr bis 17:00 Uhr gestempelt wird. Wird das denn in Zukunft noch möglich sein?
Systeme, die diese Möglichkeit anbieten, werden auch eine genaue Erfassung der Arbeitszeit ermöglichen. Die Erfassung vorab festgelegter Zeiten könnte nur eine Option für Arbeitnehmer, die es sich insoweit einfach machen wollen und bereit sind, zu festen Zeiten zu arbeiten.
Aus Arbeitnehmersicht würde ich dazu aber nicht raten, da dies schnell dazu führen kann, dass das System Arbeitszeiten dokumentiert, zu denen Mitarbeiter tatsächlich nicht gearbeitet haben. Wenn Arbeitnehmer dann während der dokumentierten Arbeitszeit nicht erreichbar sind, kann dies schnell zu Misstrauen und Bedenken des Arbeitgebers mit entsprechenden Vorwürfen und weitergehenden Konsequenzen führen.
Wenn Systeme zur Arbeitszeiterfassung bestehen, sollten diese daher auch zur genauen Erfassung genutzt werden.
Dann hätte ich noch eine letzte Frage: Anfang des Jahres gab es ja schon einen Vorstoß des Bundesarbeitsministers, in welchem vor einer Pflicht zu elektronischen Systemen die Rede war. Dieser Vorstoß wurde von einem Koalitionspartner abgeschmettert, wenn ich es richtig in Erinnerung habe. Gehen Sie denn davon aus, dass tatsächlich nur elektronische, digitale Systeme zulässig sein werden oder kann auch weiterhin der Papierbogen genutzt werden?
Ich gehe davon aus, dass das Bundesarbeitsgericht nicht über die Vorgaben des EuGH hinausgehen wird, der in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2019 ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung gefordert hat.
Objektiv, verlässlich und zugänglich bedeutet für mich nicht, dass es zwingend ein elektronisches System sein muss. Diese Vorgaben lassen sich auch auf andere Art und Weise abbilden. Die meisten Unternehmen dürften gleichwohl ein elektronisches System bevorzugen, weil dies den administrativen Aufwand minimiert und in der Praxis schlicht das einfachste ist.
Vielen Dank für Ihre ausführlichen Antworten zu meinen Fragen. Haben Sie denn noch Anmerkungen oder haben wir ein wichtiges Thema vergessen?
Sehr gerne. Aus meiner Sicht haben wir alle wesentlichen Punkte besprochen. Ich gehe aber davon aus, dass das Thema uns noch eine Weile beschäftigen wird.
Es ist aber sicherlich kein Fehler, wenn Unternehmen, die noch kein System im Einsatz haben, sich bereits jetzt mit der Frage der Arbeitszeiterfassung beschäftigen.